Vor nicht allzu langer Zeit galt Programmieren als eine Disziplin der Präzision: Syntax, Logik, Tests, Commit. Heute taucht ein Begriff auf, der diese Grundfesten infrage stellt – Vibe Coding. Eine neue Generation von Entwicklern verlässt die klassische IDE (Integrated Development Environment, also die Entwicklungsumgebung wie z.B Visual Studio Code) und tippt stattdessen Sätze wie „Bau mir ein Dashboard, das den Umsatz pro Region visualisiert, aber bitte in einem modernen Look“ in eine KI-Konsole. Der Rest passiert automatisch.
Was zunächst wie ein modischer Ausdruck klingt, beschreibt tatsächlich einen tiefgreifenden Wandel in der Softwareentwicklung: den Übergang von expliziter Codierung zu impliziter, KI-gestützter Generierung. Statt sich mit Frameworks, Libraries und API-Spezifika zu beschäftigen, arbeiten Menschen zunehmend auf der Metaebene – sie definieren Absicht, Ton und Richtung. Die KI erledigt den Rest.
Dieser Wandel ist allerdings längst nicht so extrem, dass er den Beruf des Entwicklers überflüssig macht und von nun an jeder ohne große Schwierigkeiten umfangreiche Softwarelösungen entwickeln kann. Wir bei Vialutions haben diverse Anwendungsfälle getestet und uns ein ziemlich klares Urteil gebildet.
Zunächst wollen wir uns aber den Begriff Vibe Coding genauer ansehen.
Begriff, Ursprung und Konzept von Vibe Coding
Vibe Coding ist kein offizieller Standard, sondern ein Kulturphänomen, das aus der wachsenden Verschmelzung von generativer KI und Software Engineering entstanden ist. Der Name spielt auf die Idee an, dass man nicht mehr Code schreibt, sondern das Gefühl einer Anwendung beschreibt – den „Vibe“.
Das Herzstück des Vibe Codings ist die Trennung von Problemverständnis und technischer Umsetzung. Während früher beides untrennbar war – ein Entwickler musste die Logik kennen, um sie zu implementieren – delegiert Vibe Coding den zweiten Teil vollständig an KI-Systeme.
Mit Vibe Coding soll sie Arbeitsweise radikal verändern: Entwickler schreiben Prompts statt Funktionen, Teams diskutieren Konzepte und Benutzererfahrungen statt technische Implementierungen, Iterationen entstehen nicht durch Codeänderungen, sondern durch veränderte Eingaben in natürlicher Sprache und der Fokus verschiebt sich von einer rein technischen Sichtweise hin zum Kreativen.
Chancen und Stärken in der Theorie
1. Geschwindigkeit: Kleine Anwendungen und MVPs lassen sich in einem Nachmittag generieren. Für Startups und Agenturen mit hohem Innovationsdruck ist das revolutionär.
2. Demokratisierung der Softwareentwicklung: Plötzlich kann jeder mit einer klaren Vorstellung Software „entwickeln“. Der Zugang zur Umsetzung komplexer Ideen wird nicht mehr durch Programmierkenntnisse begrenzt.
3. Kreativer Fokus: Da technische Detailarbeit entfällt, verschiebt sich der Fokus auf Konzept, Design und Nutzererlebnis.
Diese Vorteile klingen im ersten Moment spektakulär. Doch bevor wir darauf eingehen, was wir von Vialutions davon halten, sehen wir uns die Nachteile an:
Risiken und Schwächen
1. Kontrollverlust: Wer nicht weiß, was im Hintergrund generiert wird, kann Fehler schwer identifizieren.
2. Abhängigkeit von Modellen: Abhängigkeit von Modellen: Die Qualität hängt vollständig von der KI-Infrastruktur ab. Bias, Fehlinterpretationen oder schlicht fehlerhafte Trainingsdaten können direkt in produktive Systeme einfließen.
3. Verlust technischer Kompetenz: Wenn Entwicklergenerationen keine Notwendigkeit mehr sehen, Code zu verstehen, entsteht ein gefährlicher Wissensverlust.
4. Urheberrecht und Compliance: Vibe Coding basiert auf Modellen, die aus fremdem Code gelernt haben. Die rechtliche Verantwortung für erzeugten Code – insbesondere im kommerziellen Umfeld – bleibt ungeklärt.
5. Fehlende Nachvollziehbarkeit: In klassischen Systemen lässt sich jede Entscheidung im Code nachvollziehen. Im Vibe Coding ist die Implementierung ein Produkt emergenter Prozesse. Das erschwert Debugging und Zertifizierung.
6. Probleme bei der Wartbarkeit: Die Wartbarkeit ist einer der problematischsten Punkte beim Vibe Coding-Ansatz. Der generierte Code ist oft formal korrekt, aber semantisch inkonsistent, existieren keine klaren Commit-Logs oder nachvollziehbaren Merge-Pfade. Da Codeversionen oft aus einem neuen Prompt heraus komplett regeneriert werden, geht der Bezug zwischen Änderung und Ursache verloren. Das erschwert Auditing, Regressionstests und Impact-Analysen erheblich. Kurz: Vibe Coding kann die Entwicklung beschleunigen, verschiebt aber den Wartungsaufwand von der Codeebene auf die Ebene der KI-Governance.
Vibe Coding bei Vialutions: Ein Experiment
Vialutions ist Spezialist für individuelle Software und Applikationen mit einem Team von über 40 Architekten, Entwicklern, Designern und Testern. Was könnte besser klingen, als mit Hilfe von KI in kürzester Zeit Anwendungen entwickeln zu können?
Daher haben wir verschiedene Anwendungsfälle getestet. Einer betrifft unsere Webapplikation vPortal, welche wir unter anderem zum Timetracking sowie zur Verwaltung von Abwesenheiten nutzen. Ein Team entwickelte die optimierte Version vPortal 2.0 im klassischen Sinne, ein weiteres Team ließ vPortal 2.0 mithilfe von KI entwickeln, Vibe Coding also.
Schnell zeigte sich ein klassisches Problem bei der Arbeit mit KI: sie neigt zu Overengineering: Sie fügt Schichten, Frameworks und Abhängigkeiten hinzu, die nicht zwingend notwendig sind, weil sie „in den Trainingsdaten üblich“ waren. Solche Muster erhöhen Komplexität und damit langfristige Wartungskosten. Zudem wird die erwartete Zeitersparnis durch Overengineering unter Umständen wieder zunichte gemacht.
In unserem Fall betraf dies beispielsweise eine Kalenderfunktionalität. Hierfür gibt es bestehende Open Source Lösungen, die verwendet werden können, doch die KI „entschied“ sich dazu, die Funktionalität from scratch zu entwickeln. Das „KI-Team“ war nicht wie in der Theorie damit beschäftigt, mit seinen Prompts die in Nullkommanix erstellte Applikation iterativ zu optimieren, sondern verbrachte den Großteil seiner Zeit mit Testing und Bugfixing.
Am Ende kam zwar eine funktionierende Webanwendung heraus, doch hatte das Team, welches mit Vibe Coding gearbeitet hatte, keinerlei Zeitvorteil gegenüber dem klassisch vorgehenden Team, kurz gesagt: die Entwicklung mithilfe der KI dauerte genauso lange, wie die Eigenprogrammierung.
Fazit und Ausblick
Kurzfristig wird Vibe Coding vor allem im Prototyping, Low-Code-Umgebungen und bei KMU eine Rolle spielen. Unserer Erfahrung nach ist das Konzept für kleine Anwendungen oder MVPs geeignet, nicht aber für umfangreichere Anwendungssoftware.
Langfristig jedoch ist klar: Wenn generative Systeme weiter Fortschritte machen, wird Vibe Coding zu einer Standardkompetenz. Nicht als Ersatz, sondern als Erweiterung – ein Werkzeug, um Ideen in Sekunden in greifbare Software zu verwandeln. Der neue Skill lautet dann nicht mehr „Python beherrschen“, sondern „Prompt Literacy“: die Fähigkeit, mit der Maschine zu denken, Intentionen präzise zu formulieren und auf Basis von Feedback iterative Verbesserungen zu steuern.
Vibe Coding ist nicht das Ende des Programmierens, sondern sein nächstes Kapitel. Es ist der Moment, in dem Code aufhört, reiner Text zu sein – und zur Sprache des Denkens wird.